Ein kurzes Porträt der Malerin Nevin Çokay

DÝE FARBEN DES HERZENS

Von Güner Ener


"Eine der zehn besten zeitgenössischen türkischen Maler und Malerinnen" - solche und ähnliche Sätze schwirren in meinem Kopf herum. Es gibt gute Maler in unserem Land, sogar sehr viele. Aber die sehr guten kann man an den Fingern abzählen. Bei der Zusammenstellung meiner persönlichen Top Ten gehe ich sehr sorgsam vor - ich will niemanden vergessen und keinem Unrecht tun. Drei von meiner Liste sind bereits verstorben, bei manch anderen muss ich nachdenken ob sie gut sind, oder doch schon sehr gut. Andere jedoch nehme ich ohne Zögern in meine Liste auf. Eine davon ist Nevin Çokay.

   Vor vielen Jahren, als ich selbst noch die Akademie besuchte, kam mein Freund Ferit Edgü mit einer großen Leinwand in unser Atelier. Er zeigte uns eine reine, kräftige Stilisierung, eine von der Farbe Blau beherrschte Komposition. Zwei, drei ärmliche Kinder klammerten sich im Stehen aneinander. Wir alle waren beeindruckt vom stolzen, zarten Vibrieren, das von der Schönheit des Bildes, der meisterlichen Ausführung und der Tatsache ausging, dass die Armut sich zwar mitteilte, sich keineswegs aber in den Vordergrund drängte. Wir standen vor dem Gemälde einer jungen Künstlerin, die etwa viereinhalb Jahre zuvor das Studium an unserer Akademie abgeschlossen hatte. Uns jedoch war sie zu diesem Zeitpunkt noch genauso wenig bekannt wie der Öffentlichkeit.
   Nachdem Ferit das Gemälde einige Wochen lang hatte bei uns stehen lassen, nahm er es wieder mit - und löste damit eine unsagbare Traurigkeit aus in mir. So war das damals, als ich Bekanntschaft machte mit Nevin Çokay und ihren unvergleichlichen, wunderschönen Werken.
   Diese Zeiten liegen inzwischen weit zurück, doch nie ließ die Bewunderung nach, mit der ich Nevin Çokays meisterhafte, niveauvolle und qualitativ hochwertige Arbeiten verfolgt habe.
   Und so weiß ich, dass die Jahre sie nicht älter oder welker werden ließen. Ganz im Gegenteil - sie reifte und festigte ihren Platz.
   Viele Maler halten fest an einem bewährten, klischeehaften Muster, sie servieren es immer wieder, ungeachtet des Überdrusses, den sie damit erzeugen. Es ist, als würden sie die immer gleiche Mahlzeit mit unterschiedlichen Beilagen zubereiten. Nevin Çokay hingegen entwickelte ihre konsequenten, ausgewogenen und ästhetischen Werke mehr und mehr in Richtung Vollkommenheit.
Die Bausteine dieser Werke sind ihr großes Talent, ihr Wissen, ihr Bewusstsein, ihr Respekt, ihre Ehre und ihr nicht zu bremsender Arbeitseifer. Der Grundstein hingegen ist die Liebe. Ihre unendliche Liebe, die sie so großzügig an die Menschen, Tiere, die Natur, an das Gute und Schöne verteilt.
   Sie malt weder aus purem Vergnügen, noch um des Geldes willen. Für sie war das Malen immer gleichbedeutend mit dem Leben selbst. So selbstverständlich ist es für sie wie das Atmen, wie der Herzschlag - und doch etwas Heiliges, dem sie sich voll und ganz verschrieben hat.
   Als ich anfing, die Reihe "Vitrinsizler" zu schreiben, war Nevin Çokay eine der Ersten, die mir eingefallen sind...
   Seit 1953 hat sie rund 40 erfolgreiche Ausstellungen eröffnet und sich im Laufe der Jahre ein sehr breites Umfeld geschaffen. Und doch gehörte sie nie zu jenen, die andere benutzen, um nach oben zu kommen. Nie zu jenen, die ihre Ellenbogen einsetzen, um auf Fotos ganz vorne zu stehen. Sie wählte stets bescheiden die letzte Reihe und deshalb verdient sie es, bei "Vitrinsizler" ganz oben zu stehen.
   In den Anfangsjahren bestimmten Menschen und Tiere ihre Bilder, zusammen mit ihrer natürlichen Umgebung und jenen Dingen, zu denen sie in Bezug stehen. Dann folgte die Reihe der "Sich Umarmenden", die sie bis heute fortführt. Selbst in den schlimmsten Momenten konnten sich Nevin Çokays Menschen in Liebe umarmen - und daher existieren. Aus diesen Bildern sprechen Trauer und Schmerz, ja sogar Verzweiflung. Die Darstellung jedoch ist edel, gleitet niemals in populistische Banalitäten ab und spielt zu keiner Zeit mit unseren Gefühlen. Auch die Umarmung, also die Liebe, die Unterstützung und der Wille durchzuhalten, sind zu spüren.
   Anfangs malte sie Kühe - ergebene und fruchtbare Tiere. Dann rückten Pferde in den Vordergrund, Pferde als Zeichen der Freiheit und der Dynamik, als Zeichen der Hoffnung, die in ihren Mähnen wehte. Ihre Landschaftsbilder zeigten immer echte Nevin-Çokay-Welten. Die Natur gestaltet sich, ohne dabei verraten zu werden, unter ihrem Pinsel völlig neu - sie trägt den unverwechselbaren Stempel der Künstlerin.
   Seit ein paar Jahren füllen Blumen, Granatäpfel, Äpfel, Paprika und Knoblauch in leuchtenden Farben ihre Leinwand. Ihre Menschen und Tiere, ihre Natur - über Jahre hinweg zeigten sie eine blaue, graue, beige und braue Welt. Jetzt füllt sie ihre Stillleben auf völlig ungewohnte Weise mit Licht in leuchtendem Rot, lebendigem Grün und Gelb - den vergangenen schmerzvollen, mühsamen Jahren zum Trotz.
   Nevin Çokay leistete mit ihren eigenen Waffen Widerstand. Çokay, die einst in ihren Bildern trauernd Bosnien beklagte, malt heute kein Wehklagen, sondern Stillleben in lebendigen Farben - wissend um das Leben, den Widerstand und die Hoffnung. Sie lässt ihre Pferde einem hellen Horizont entgegen galoppieren. Und ich stelle meine erste Frage:

Liebe Nevin Çokay, ich will ganz von vorne anfangen. Womit begann ihre Liebe zur Malerei?

   Dafür gab es viele Gründe. Mein Vater war Zollbeamter und wurde von hier nach da versetzt. Wir zogen ständig um - nach Bandýrma, Zonguldak, Kars usw. Dabei lernten wir die Menschen, die Natur und nicht zuletzt die Kultur verschiedener Orte kennen. Hierin begründen sich mein Interesse und meine Liebe zur Natur und Volkskunst. Als Kind konnte ich mich stundenlang mit den unmöglichsten Dingen beschäftigen. Ameisen oder grüne Heuschrecken zum Beispiel beobachtete ich, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Wenn ich im Garten ein einzelnes Blatt fand, fragte ich mich, von welchem Baum es wohl gefallen war und untersuchte es gründlich.
   Zudem liebte ich Tiere und wir hatten stets einige um uns herum - egal wo wir wohnten. In Kars hatten wir sogar ein Fohlen. Ich habe mich manchmal draufgesetzt und bin im Garten umhergeritten. Das Haus in Çengelköy, das wir in den 40ern bezogen, als wir nach Istanbul zurückkehrten, stand auf einem 6000 qm großen Grundstück. Wir hatten genug Platz für einige Kühe und Ziegen. In meiner Zeit auf der Akademie malte ich sehr viele Bilder von Kühen - und jeder mochte sie. Ich werde nie vergessen, dass eines dieser Bilder meinem Lehrer Bedri Rahmi besonders gut gefallen hat und er mir vorschlug, es gegen eines seiner Selbstporträts zu tauschen. Das taten wir dann auch.
   Während wir in Bandýrma wohnten und ich die Mittelschule besuchte, erwachte in mir mehr und mehr das Interesse für das Meer und für Boote. Zu dieser Zeit war ich krank. Mein Lehrer Melahat Arda, der meine Begabung zur Malerei früh bemerkte und mich ermutigte, legte mir nahe, während meiner Krankheit doch das Meer und die Boote zu zeichnen.
   Dass ich in den letzten Jahren so viele Pferde male, hängt bestimmt mit dem Fohlen in Kars zusammen. Es hatte einen weißen Fleck auf der Stirn und sein junger Körper, der mit braunem Samt überzogen zu sein schien, war wunderschön. Es war ein braves Tier mit einem guten Charakter. Es machte mir sehr viel Freude, es zu zeichnen. Mit der Zeit wurde es für mich zu einem Symbol für die Freiheit.
   Ich bin übrigens nicht die Einzige in der Familie mit dem Talent zur Malerei. Auch meine ältere Schwester und meine Tante sind begabt. Es steckt uns also in den Genen, aber außer mir hat es keine zu ihrem Beruf gemacht.

Und dann begann das Abenteuer Akademie...

   Als mein Vater nach Istanbul versetzt wurde, freute ich mich sehr. Ich nahm die Malerei inzwischen sehr ernst. Mein größter Traum war es, die Akademie der Schönen Künste zu besuchen. Ich wusste, dass es meiner Familie aus finanziellen Gründen schwer fallen würde, mir diese Ausbildung zu ermöglichen - aber es war mein sehnlichster Wunsch. 1947 nahm ich heimlich an der Aufnahmeprüfung teil und bestand. Im ersten Jahr fertigten wir hauptsächlich klassische Zeichnungen an.
   Im zweiten Jahr wählte jeder Schüler ein Atelier. Ich entschied mich für das von Bedri Rahmi Eyüboðlu, von dem ich bis dato nur Gutes gehört hatte. Vom ersten Tag an verband mich mit Bedri Hodscha eine Freundschaft, geprägt von Respekt und Liebe. Sie begann als Lehrer-Student-Beziehung, setzte sich später fort als wir Kollegen geworden waren, und hielt bis zu seinem Tode an.
In jenen Tagen stellten wir unsere Leinwände selbst her. Auch Farben waren kaum erschwinglich. Ich sammelte die Farbpigmente, die in der benachbarten Buchbinderei abfielen, zerstieß und vermengte sie mit Leinöl, um neue Farben zu gewinnen. Damit malte ich dann meine Bilder. Bedri Rahmi bemerkte meine schwierige Situation und verschaffte mir über seinen Bruder Sabahattin Eyüboðlu einen Job in einer Stofffabrik. Dort malte ich Stoffmuster. Später arbeitete ich für Adalet Cimcoz als Film-Synchronsprecherin. Das ging vier Jahre lang so und diese Zeit half mir über meine finanziellen Probleme einigermaßen hinweg. 1953 machte ich meinen Abschluss.

In Ihrer Studienzeit haben Sie sich auch mit anderen Kunstrichtungen beschäftigt, unter anderem mit Musik. Erzählen Sie mir bitte davon.

  Zwischen 1950 und 1953 sang ich im Volksmusikchor von Radio Istanbul unter der Leitung von Nedim Otyam. Wir fuhren nach Italien, gaben Konzerte und führten auch Folklore-Tänze auf. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schön und nützlich diese Reise für mich war. Ich liebe Fresken und Skulpturen. Und in den italienischen Museen hatte ich endlich die Gelegenheit, sie zu studieren. Ich besuchte eine Ausstellung von Matisse und auch seine Konferenz. Sie sehen - wohin ich auch ging, die Malerei war stets bei mir.
   Als 1953 meine Zeit an der Akademie zu Ende ging, fand gerade die Aufnahmeprüfung für die Studienrichtung Oper am Konservatorium in Istanbul statt. Von den 300 Teilnehmern haben insgesamt nur sehr wenige bestanden, und zu diesen sehr wenigen gehörte ich! Leider konnte ich mir die Aufnahmegebühr nicht leisten und so habe ich mit diesem Thema abgeschlossen - endgültig. Ich war nicht egoistisch, ich hätte nie etwas von meiner Familie verlangen können. So blieben also nur ich und meine Malerei übrig.

Und Sie machten sich auf Ihren Weg als Malerin....

   Ja. Die Freundschaften zu Nedim Günsür, Mehmet Pesen, Fikret Otyam, Turan Erol, Orhan Peker, Mustafa Esirkuþ und Remzi Raþa, die in der Studienzeit begannen, wurden durch unseren Eintritt in die "On'lar" Gruppe noch verstärkt. Wir nahmen an der siebten Ausstellung der "On'lar"-Gruppe teil und konnten uns über eine gute Resonanz freuen. Meine erste eigene Ausstellung eröffnete ich 1953 in der Galerie "Maya" von Adalet Cimcoz. Diese Galerie war eine Art Kunstzentrum. Ein Treffpunkt für die Künstler, Denker und Schriftsteller jener Zeit. Auch Sait Faik, Yaþar Kemal, Sabahattin Eyüboðlu, Nevzat Üstün, Özdemir Asaf, Ahmet Hamdi Tanpýnar und Nahit Sýrrý Örik waren Freunde von Adalet und der Galerie "Maya". Meine erste Ausstellung erregte viel Aufsehen und bekam gute Kritiken. Manche Kunstkenner äußerten sich auf sehr ungewöhnliche Weise über mich und meine Werke. So war beispielsweise zu lesen: "Bilder, so fundiert wie die Eisenbahn (der Mädchenname von Nevin Çokay)". Afif Yesari sprach von "der Malerin mit dem Spatzengang". Es waren schöne Tage, in denen ich außerdem meinen Mann kennen lernte. Nejat Çokay war der Geschäftsführer der Galerie "Maya". Wir heirateten 1956 und leben seitdem zusammen.
   Und dann gab es noch den Freundeskreis um Nuri Iyem und sein Atelier im Asmalýmescit: Aloþ, Kuzgun Acar, Sadi Diren und Oktay Günday. Die Freundschaft, die auf der Akademie begonnen hatte, verfestigte sich im Asmalýmescit. Später eröffneten wir eine Ausstellung mit dem Titel "Yeniler"-Gruppe - unter der Führung von Nuri Iyem. Und wissen Sie wo? In der Kuyucu Murat Paþa Medresesi in Þehzadebaþý. Die Ausstellung wurde ein großer Erfolg.
  Zu dieser Zeit gab es nur wenige Galerien, daher stellte ich meine Bilder jedes Jahr in der Stadtgalerie am Taksim und beim Türkisch-Deutschen Verein in Beyoðlu aus. Auch später noch, als immer mehr Galerien eröffneten, blieb ich diesen Häusern treu.

Sie hatten auch im Ausland erfolgreiche Ausstellungen. Können Sie dazu ein, zwei Sätze sagen?

   1979 wurde ich nach Holland eingeladen. Der berühmte Violinist Saim Akçýl war zu jener Zeit dort und hatte den Kontakt hergestellt. Ich blieb zweieinhalb Monate, aber meine Bilder wurden ein Jahr lang in verschiedenen Museen und Galerien in Deventer, Den Haag und Rotterdam ausgestellt. In der Presse gab es sehr gute Kritiken. Sogar einen Fernsehbeitrag hat man über mich gedreht. Ich besuchte zweieinhalb Monate lang Museen, ließ mich durch die Straßen treiben und schenkte meine Aufmerksamkeit den Unterschieden zu jenem Lebensstil, den ich von zu Hause kannte. Es waren gerade die kleinen Dinge, die mich sehr beeindruckten: Ein junger Professor und seine Frau zum Beispiel, die eines meiner Bilder bei der Ausstellung gekauft hatten, luden mich zu sich ein. Sie bewirteten mich und fragten, wo sie das Bild am besten aufhängen könnten. Sogar nach dem besten Licht fragten sie mich.

Kommen wir zu Ihrer langjährigen Lehrtätigkeit

   Oh, das war eine sehr schöne Zeit - wenn auch anstrengend. Genau wie mein Lehrer Bedri Rahmi wollte ich meine Schüler nicht mit meiner Art zu malen beeinflussen. Von 1966 bis 1970 unterrichtete ich am Bakýrköy Kultur College Malerei und Kunstgeschichte. In meinem eigenen Atelier gab ich drei Jahre, im Atelier der Levent Kunstgalerie vier und im Atelier des Kunsthauses Çizgi wiederum drei Jahre lang Malunterricht. Ich hatte sehr talentierte Schüler. Zwei von ihnen wurden bei einem weltweiten Wettbewerb in Italien mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Wir arbeiteten wie verrückt zusammen. Zum Beispiel organisierten wir eine große Ausstellung am Bahnhof von Bakýrköy. Ein andermal stemmten wir im Taksim Park eine Werkschau mit 250 Bildern!
   Manche meiner Schüler haben sich einen Namen gemacht, wie beispielsweise Niyazi Toptoprak und Levent Arþýray. Ich bin auf alle sehr stolz!








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